String Quartet (fem vce -
str quar - electronics
(tape) and projection of
lyrics ad lib.)
SKU:
BR.KM-2483-07
Holderlin lesen
IV. Composed by Hans
Zender. Chamber music;
stapled.
Kammermusik-Bibliothek
(Chamber Music Library).
Music post-1945; New
music (post-2000). Study
Score. Composed 2000. 56
pages. Duration 40'.
Breitkopf and Haertel #KM
2483-07. Published by
Breitkopf and Haertel
(BR.KM-2483-07).
ISBN
9790004502587. 9 x 12
inches.
Friedrich
HolderlinMnemosyne Ein
Zeichen sind wir,
deutungslos,Schmerzlos
sind wir und haben
fastDie Sprache in der
Fremde verloren.Wenn
namlich uber MenschenEin
Streit ist an dem Himmel
und gewaltigDie Monde
gehn, so redetDas Meer
auch und Strome mussenDen
Pfad sich suchen.
ZweifellosIst aber Einer,
derKann taglich es
andern. Kaum bedarf
erGesetz. Und es tonet
das Blatt und Eichbaume
wehn dann nebenDen
Firnen. Denn nicht
vermogenDie Himmlischen
alles. Namlich es
reichenDie Sterblichen eh
an den Abgrund. Also
wendet es sich, das
Echo,Mit diesen. Lang
istDie Zeit, es ereignet
sich aberDas Wahre. Wie
aber Liebes?
SonnenscheinAm Boden
sehen wir und trockenen
StaubUnd heimatlich die
Schatten der Walder und
es bluhetAn Dachern der
Rauch, bei alter KroneDer
Turme, friedsam; gut sind
namlich,Hat gegenredend
die SeeleEin Himmlisches
verwundet, die
Tageszeichen.Denn Schnee,
wie MaienblumenDas
Edelmutige, woEs seie,
bedeutend, glanzet aufDer
grunen WieseDer Alpen,
halftig, da, vom Kreuze
redend, dasGesetzt ist
unterwegs
einmalGestorbenen, auf
hoher StrassEin
Wandersmann geht
zornigFern ahnend mitDem
andern, aber was ist
dies?Am Feigenbaum ist
meinAchilles mir
gestorben,Und Ajax
liegtAn den Grotten der
See,An Bachen, benachbart
dem Skamandros.An
Schlafen Sausen einst,
nachDer unbewegten
Salamis steterGewohnheit,
in der Fremd, ist
grossAjax
gestorben,Patroklos aber
in des Koniges Harnisch.
Und es starbenNoch andere
viel. Am Kitharon aber
lagEleuthera, der
Mnemosyne Stadt. Der
auch, alsAblegte den
Mantel Gott, das
Abendliche nachher
losteDie Locken.
Himmlische namlich
sindUnwillig, wenn einer
nicht die Seele schonend
sichZusammengenommen,
aber er muss doch;
demGleich fehlet die
TrauerIn meinen Holderlin
lesen-Stucken ging es mir
darum, Wege zu finden,
die gewaltigen
Sprachstrukturen
Holderlins so in die
zeitliche Form der Musik
zu integrieren, dass sie
Funktionen der
musikalischen Form
ubernehmen, ohne in ihrer
Eigenkraft (sowohl
akustisch wie auch im
Sinne expressiver
,,Deutung) im geringsten
geschmalert zu werden.
Das hiess zunachst:
Sprechen, nicht singen! -
Aber das wurde nur
bedeuten, dass es nicht
um die Musikalisierung
von Text geht; ebenso
wichtig ist es, dass es
auch nicht um
melodramatisch
,,erzahlende Musik geht.
Sondern: Zwei autonome
Kunste durchdringen sich
auf diaphane Weise, ohne
sich zu uberformen oder
auszuloschen; es handelt
sich um einen Dialog,
nicht um eine
Vereinnahmung durch
Hierarchisierung.Sind wir
uns selbst zu einem
,,Zeichen...deutungslos
geworden, wie es
Holderlins Anfangszeilen
sagen, so erscheinen auch
die Zeichen, die wir
selber setzen, sich immer
mehr einer Deutbarkeit zu
entziehen. Mein Stuck,
das den vollstandigen
Text von Holderlins
Mnemosyne integriert,
stellt auf seine Weise
die Frage nach dem
,,Zeichen. ,,Was ist
dies? Klang? Wort?
Schrift? Wie sind die
Grenzen, die Ubergange,
die gegenseitigen
Beeinflussungen der
einzelnen
Zeichenregionen? Was
liegt ihnen zugrunde?
Worte und musikalische
Zeichen bewegen sich im
Medium der Zeit;
Schriftzeichen erscheinen
zunachst als
Verraumlichung, aber man
muss daran erinnern, dass
der Vorgang des
Schreibens - wie er in
der ostasiatischen
Kalligraphie zu hochster
Kunst entwickelt wurde -
auch zeitlichen Charakter
hat. Mnemosyne - die
Kraft des Sich-Erinnerns
- schafft die Zeichen,
indem sie Gestalten durch
Wiederholung fixiert und
so aus dem endlosen Fluss
der wahrgenommenen
Vorgange herauslost. Die
so entstehende
artikulierte Zeit schafft
wiederum durch das
Wechselspiel von
fixierten und sich
bewegenden Gestalten das
Bewusstsein fur
differenzierte
Formablaufe. Der
Formverlauf meines
Stuckes zeichnet solche
genetischen Prozesse
nach. Der Horer wird
schnell merken, dass die
Wortzeichen oft einer
zuerst erscheinenden
musikalischen Klangwelt
entspringen (ich stimme
Walter Benjamin zu, wenn
er sagt, dass die Sprache
in ihrer grundlegenden
Schicht expressiven - und
nicht darstellenden -
Charakter hat). Die
Schrift auf der Leinwand
folgt zunachst den
sprachlichen Aktionen der
Stimme, erhalt dann aber
auch eigene Teile der
Form zugeteilt, in der
sie sich als autonomes
Zeichen darstellt. In der
durch die drei Strophen
Holderlins
notwendigerweise
dreiteiligen Gesamtform
gibt es immer wieder
Abschnitte, in denen
entweder das musikalische
Geschehen oder die
Sprachzeichen des
Gedichtes oder das
Sich-Schreiben der
Schrift im Vordergrund
stehen; der Komponist
versteht sich also hier
auch als ,,Zusammensetzer
der in unserer
Wahrnehmung so
verschieden besetzten
Zeiten des Schreibens,
Sprechens und
Musikhorens. Es bilden
sich im Verlauf des
40-minutigen Stuckes auch
Grenzfalle, wie ,,stumme
Musik oder total
musikalisierte - ihrer
Verstehbarkeit beraubte -
Textrezitation. Auch das
Singen von Text - in
meinen bisherigen
Holderlinstucken strikt
vermieden - wird als
ausserste Moglichkeit
gegen Ende des formalen
Prozesses zugelassen. An
einigen Stellen zeigt die
Musik sozusagen direkt
auf sich selbst. Es sind
Formzustande, die ich in
meinem ,,Shir Hashirim
als ,,Koan bezeichnet
habe: ,,endlose
Wiederholungen einer
zeichenhaften
Konstellation, bei jeder
Wiederholung minimal
verandert - so wie ein
Kalligraph sein
Schriftzeichen bei jedem
Malvorgang unwillkurlich
verandert und neu
schafft. Steht im ersten
Teil der Grossform der
Aspekt des Abstrakten,
des Unsinnlichen im
Vordergrund, so wird im
zweiten Teil
Bildhaftigkeit als
Eigenschaft nicht nur der
Sprache, sondern auch der
Musik betont: die
Landschaft, halb schnee -
halb blutenbedeckt, die
der Wanderer ,,zornig
durchstreift. Am Ende
dieses Teils wird das
Schriftbild selber zur
Landschaft, die der
Leser/Horer durchwandert.
Er wird im dritten Teil
durch einen
Verwandlungsprozess zu
den ekstatischen
Ursprungen des
holderlinschen Dichtens
gefuhrt, und damit zur
explizit musikalischen
Ebene: Die Totenklage um
Hektor und Ajax wird zum
,,dithyrambischen Tanz,
wie es Holderlins
Schlusszeile entwirft:
,,... darum fehlet die
Trauer. Es bleibt noch
nachzutragen, dass ich
den in der Stuttgarter
Ausgabe der Werke
Holderlins in drei
Versionen abgedruckten
Text in einer
Mischversion verwendet
habe: die erste Strophe
aus der 2. Fassung, die
zweite mit Abweichungen
und Widerspruchen aus
allen drei Fassungen, und
die dritte Strophe aus
der 3. Fassung. (Hans
Zender) CD:Salome Kammer
(voice), Klangforum Wien,
cond. Hans ZenderKairos
0012522KAIBibliography:Al
lwardt, Ingrid:
Nach-Lese. Holderlins
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in: Hans Zender.
Vielstimmig in sich,
hrsg. von Werner
Grunzweig, Jorn Peter
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(= Archive zur Musik des
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Band 12), Hofheim: Wolke
2008, pp. 43-60.Fuhrmann,
Wolfgang: Zender lesen.
Die Frage nach dem
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in: ,,Ein Zeichen sind
wir, deutungslos.
Holderlin lesen, Ikkyu
Sojun horen, Musik
denken, hrsg. von
Violetta L. Waibel,
Gottingen: Wallstein
2020, S. 194-211Pragungen
im Pluralismus. Hans
Zender im Gesprach mit
Jorn Peter Hiekel, in:
Orientierungen. Wege im
Pluralismus der
Gegenwartsmusik, hrsg.
von Jorn Peter Hiekel (=
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Zender. Vielstimmig in
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Grunzweig, Jorn Peter
Hiekel und Anouk Jeschke
(= Archive zur Musik des
20. und 21. Jahrhunderts,
Band 12), Hofheim: Wolke
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Klaus Michael Gruber,
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25-29.Zender, Hans: Zu
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Zeit und Gedachtnis in
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Dorothea Redepenning und
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